Zehn Bücher

Zehn Bücher

Special Review vom 23. September 2024

Geschätztes Publikum
Ich schöpfe gerne schreibend aus dem Leben. Meine Newsletter aus der Rec Rec-Shop Zeit waren für mich stets der rote Faden, um Musik vorzustellen, aber auch möglichst präzis zu beurteilen. Seit bald vier Jahren schreibe ich an meinen Memoiren. Immer wieder unterbrochen von längeren Pausen. Denn all die intensiven Erlebnisse und bestandenen Abenteuer müssen verarbeitet werden. Ein sehr spannender und angenehmer Prozess. Wenn alles klappt, sind meine Memoiren im Verlaufe des Jahres 2025 beendet und es beginnt das Lektorat.
Inzwischen habe ich zu einer Auswahl von zehn Büchern Kurzreviews verfasst.
Mein Hauptinteresse gilt Sachbüchern, Memoiren und Biografien. Wenn nur zwei Titel Euer Interesse wecken, ist meine Mission erfüllt. Fragen dazu werden gerne individuell beantwortet.
Bitte bestellt über den alternativen Buchhandel und vermeidet grosse Anbieter wie Amazon oder Ex Libris.

Herzliche Grüsse, Veit
Zürich, im Herbst 2024


John Giorno „Grosse Dämonenkönige“ (Selession) ca. 38.-
"Ein Leben voller Poesie, Sex, Kunst, Tod und Erleuchtung“. Hervorragende Übersetzung: Urs Engeler. Ein beeindruckendes und temporeiches Werk, heftig befreiend erzählte Memoiren des Erfinders des Poesie-Telefons und Begründers des Labels „Giorno Potry System“, mit Anne Waldman, Laurie Anderson, William Burroughs, Glenn Branca, Lydia Lunch, Psychic TV etc. Schönes Zitat: „Das Wetter war ein Spiegelbild meines schlechten Gemütszustandes.“ (Seite 124). Das Buch schwächelt im letzten Drittel. Beeindruckt ist man zu Beginn über die unzähligen sexuellen Kontakte zu berühmten Männern. Befremdend war hingegen sein Umgang mit Aids. Da war die Position von Rosa von Praunheim zum Thema brauchbarer. Wie kokett Giorno z.B. die Szene ausschmückt, über seine Begnung mit dem noch unbekannten Keith Haring in einem Pissoir, der kurz darauf mit 33 Jahren starb. Am Schluss führt das Buch zu unbeabsichtigter Heiterkeit, zumindest für Atheisten. Giorno zählt unerbittlich auf, was alles nach dem Tode von Burroughs falsch gemacht wurde, um nach buddhistischer Zeremonie die Seele aus dem Körper zu befreien. Den Moment des Todes schätze ich nach heutigem Wissensstand als unglaublich spannend ein, aber all der Pathos, der von Menschen seit Jahrhunderten ins „Jenseits“ projeziert wird, ist nicht meine Welt.

Moon Unit Zappa „Earth To Moon“ (Heyne) ca. 28.-
"Aus dem Schatten meines Vaters zu mir selbst - Erinnerungen". Bereits ist die deutsche Übersetzung da, für Fans und Kritiker der Zappa-Saga ein Muss. Frank Zappa hatte mit Gail vier Kinder, Moon (*1967) war die älteste. Die Schattenseiten einer „freien Künstlerfamilie“ werden hier exemplarisch aufgerollt. Arbeitssüchtig im hauseigenen Studio bis tief in die Nacht, Frank duldete als Drogen nur Zigaretten und Kaffee, dann ausschlafen bis 17 Uhr. Die Kinder hatten derweil untertags still zu sein. Und dann wieder die monatelange Absenz des Vaters auf Tour. Die Mutter Gail war überfordert und kompensierte die Lieblosigkeit ihres Mannes mit neurotischen Eskapaden, gegenüber den Kindern oder dem deutschen Festival „Zappanale“. Moon Zappa schreibt sich die Seele vom Leib, wenn auch meiner Meinung nach zu stark aus der Perspektive eines Teenagers, und nicht einer 56-jährigen Frau. Zuwenig beleuchtet wird das Scheitern ihrer Ehe 2014, im Kontext mit ihrem Elternhaus. Die Lektüre ist traurig und beklemmend, aber auch notwendig und befreiend. Berührend die Szene auf Seite 326, als sie im Januar 95 nach der Laudatio von Lou Reed für Zappas Einzug in die "Rock’n’Roll Hall Of Fame“ vom weinenden Jeff Buckley umarmt wird, während Robert Plant zu Moon sagt, sie sei „ziemlich witzig“.

Nikel Pallat „Das schillernde Leben von Ton Steine Scherben bis Adele“ (Hannibal) ca. 29.-
Höchst lesenswerte und unterhaltsame Memoiren des Begründers des Indigo-Vertriebs in Hamburg. Nikel Pallat lernte ab 1970 sehr viel bei Ton Steine Scherben, als es galt, in ganz Deutschland ihre Platten in die Läden zu bringen. Angereichert mit vielen köstlichen Anekdoten über einen weiten Zeitraum hinweg. Beleuchtet auch den Wegzug der Scherben 1975 nach Fresenhagen. Pallat war immer auch tendenziell ein Performer, angefangen mit den fulminanten Axthieben 1971 auf den Redaktionstisch während einer langweiligen TV-Diskussion, über seine Lucio Dalla-Coverversionen-Platte „Nikel’s Spuk“ von 1981, bis hin zu den unzähligen Achtungserfolgen mit Indigo, die zuletzt gar in Deuschland die Karriere von Sängerin Adele ermöglicht haben. Sein Lebenslauf läuft sozusagen parallel zu Rec Rec Zürich, am Start mit Der Plan (Ata Tak), Hans-A-Plast (No Fun), Abwärts, Einstürzende Neubauten und Palais Schaumburg (Zickzack), Crass (Crass Records), Dead Kennedys (Alternative Tentacles), Hüsker Dü (SST), Fettes Brot (FBS), Tuxedomoon (Crammed) und Residents (Ralph). Später kamen dazu: Soul Jazz Records, Beggars Banquet, World Circuit, Glitterhouse, Disko B, Normal, Tapete und Trikont. Durchs Buch erfahren wir, dass es von TSS eine 2CD „50 Jahre“-Compilation gibt, mit einer Scherben-Fassung von „Junimond“.

Dominik Riedo „Hösli/Alles Liebe“ (Weber Verlag) ca. 34.-
Die Texte zu seinen veröffentlichten Songs und weiteres Sprachmaterial. Verdienstvolle Publikation, die eine wichtige Figur der Schweizer Musiklandschaft beleuchtet. Hösli & Ricardo sah ich einmal im Spheres und war begeistert. Seine frühere Band Stevens Nude Club sah ich einst um 1986 in der Roten Fabrik, etwas viel Klamauk für meine damaligen Begriffe. Aber im Rückblick: Kultfigur, ganz klar. Das Buch wird Thomas Hösli (1965–2007) mehr als gerecht, dem Allrounder und Pechvogel, der uns während der Lektüre ans Herz wächst. Besonders reizvoll: die gesammelten Kolumnen 1995–2003 zeigen seinen ganzen Schalk und Sprachwitz. Reichhaltiges Fotomaterial, sehr kompetent gestalteter Anhang. Mit grossem Aufwand wurden seine Songtexte ab Platten niedergeschrieben, da Manuskripte fehlten. Mein grösster Lapsus? Dass ich 2000 seinen Konzertabend für Sensational Alex Harvey verpasste.

Nadine Schnyder „Zelle 10“ (Weber Verlag) ca. 29.-
Ein Krimi rund um den Sedel Luzern. Nadine war fünf Jahre mit Hösli befreundet, der Abwart war im ehemaligen Gefängnis Sedel, seit 1981 in Übungsräume umfunktioniert. Die passende Lektüre nach dem Buch über Hösli. Die absurde Story ist witzig, temporeich und auch charmant – mit einem verblüffenden Ende. Nadine Schnyder versteht es Spannung aufzubauen, auch mit Überraschungseffekten und falschen Fährten. Am liebsten würde man gleich in den Fortsetzungsband eintauchen. „Die kleine Prozession schritt die Treppe zur Terrasse mit dem leeren Wasserbecken hinunter, um sich bei einer der Trauerbuchen zu versammeln und den immer wieder hell aufleuchtenden Abendhimmel zu sehen. Bei jedem Knall bellte Lord Nelson. Ansonsten war es still. Drei zarte, krause Rauchsäulen stiegen auf.“ (S. 281)

Ute Lemper „Die Zeitreisende“ ( Gräfe + Unzer) ca. 29.-
Einzig mit „Songbook“ (1991, Michael Nyman) hat Ute Lemper mich damals verzaubert. Im Bereich Kurt Weill-Vertonungen war für mich immer Dagmar Krause die Königin. Aber mit ihren Erinnerungen „Die Zeitreisende“ hat sich das verändert. Sehr elegant und reflektierend streift die berühmte Sängerin durch ihr Leben und Werk. Kein Wankelmut oder Pathos erkennbar, sehr geerdet und transparent. Ute Lemper hatte einen Hang zum Musical und Theater, musste trotz vier Kindern sehr oft ohne Absenz auf der Bühne stehen. Marlene Dietrich kommt im Buch eine Spur zu häufig vor, wir erfahren aber immer spannende Details. Chapeau!

Eric Bergkraut „Hundert Tage im Frühling“ (Limmat) ca. 29.-
Der gnadenlose Verriss „Trauerporno aus dem Künstlermilieu“ (Tages Anzeiger) fand ich empörend und hat mich zur Lektüre angetrieben. Niemand muss diese berührenden Worte beim Abschied von Ruth Schweikert (1964–2023) lesen. Das Passfoto von Ruth und Eric auf Seite 201 ist sehr beschwingt. Das Buch erzählt in Du-Form, sehr respektvoll und zurückhaltend. Jetzt wird dem Autor vorschnell Voyeurismus vorgehalten. Ich glaube nicht, dass Ruth Schweikert gegen die Veröffentlichung dieses Buches Einwände gehabt hätte. Die beiden vor Gericht verurteilten Zwillingssöhne des Paares kommentiere ich hier nicht, vielleicht bei anderer Gelegenheit. Aber ich fand es pietätvoll, ist Bergkraut nur am Rande darauf eingegangen.

Werner Herzog „Jeder für sich und Gott gegen Alle“ (Hanser) ca. 24.-
Ich hatte mich seit „Kaspar Hauser“ (74) und „Aguirre“ (72, Musik Popol Vuh) lange nicht mehr mit Herzog befasst. Dann sahen wir „Julianes Sturz in den Dschungel“ (2000), minutiös rekonstruiert, die magische Geschichte einer jungen Frau, die im Dschungel von Peru 1971 einen Flugzeugabsturz überlebt. Dann 2022 „Die innere Glut“, das Requiem für das Vulkanforscher-Paar Katia und Maurice Krafft, die viel Filmmaterial hinterlassen haben und im Juni 1991 in Japan von einer Staubwolke verschluckt werden. Beide Filme hat Herzog mit unaufgeregtem Tonfall im Off kommentiert. Jetzt diese faszinierenden Memoiren. Total abgefahren. Die Fähigkeit zu staunen. Anekdoten auf dem Dreh. Seine Fähigkeit, klug zu reflektieren. Schlicht atemberaubend.

Shila Behjat „Söhne gross ziehen als Feministin (Hanser) ca. 29.-
"Lässt sich Feminismus mit der Erziehung von Söhnen vereinen?" Ein intelligentes, anregendes und kontroverses Buch. Das Thema wurde bereits vor 40 Jahren engagiert diskutiert, erinnert sei an die Debatte um den Bestseller „Muttersöhne“ von Volker Elis Pilgrim. Es ist eine Lebensaufgabe für Frauen wie Männer, von stereotypen Rollenbildern wegzukommen, und trotzdem nicht das Kind mit dem Bad auszuschütten. Die Autorin Shila Behjat (*1982) mit deutschiranischen Wurzeln wurde durch ihre zwei Söhne auf das Thema aufmerksam. „Durch meine Empörung hindurch, die ich über die pauschale Verurteilung meiner beiden Söhne empfinde, erkenne ich, wie kollektiv das Trauma mit männlicher Dominanz in uns allen sitzt.“

Huschke Mau „Entmenschlicht" (Edel Books) ca. 29.-
„Warum wir Prostitution abschaffen müssen“. Mein grosser Respekt geht an Huschke Mau, ihr Buch ist sehr eindrücklich und kompetent. Vor fünfzig Jahren haben wir uns über die „verklemmten Kleinbürger“ lustig gemacht, die sich am Kiosk den Playboy in ein unverfängliches Magazin einrollen liessen. Inzwischen ist meiner Meinung nach die „sexuelle Befreiung“ vollkommen aus dem Ruder gelaufen. Solange es unzählige abwertende Begriffe für „Nutten“ gibt, während die sich Sex kaufenden Männer immer noch „Freier“ genannt werden dürfen, ist die Welt für mich nicht in Ordnung.

„Meistens pendele ich zwischen Realität und Fantasie. Meine Realität braucht Vorstellungskraft wie eine Glühbirne eine Fassung. Meine Fantasie braucht die Realität wie ein Blinder einen Stock.“
Tom Waits

In Loving Memory: Catherine Ribeiro (1941–2024), Gena Rowlands (1930–2024), Shelley Duval (1949–2024), Dora Ramseier (1945–2024), Irène Schweizer (1941–2024), R.P.S. Lanrue (1950–2024), Tom Fowler (1950–2024), Ben Vautier (1935–2024), Roli Mosimann (1955–2024), Pier Geering (1947–2024), Tim Hinkley (1946–2024) und Zoot Money (1942–2024)