Faszination Pilgrim: eine Spurensuche zwischen Auckland und Berlin

Faszination Pilgrim: eine Spurensuche zwischen Auckland und Berlin

News vom 22. Oktober 2022

Liebe Leute

Seit dem Abschluss der Tetralogie „Hitler 1 und Hitler 2" im Sommer 2019 von Volker Elis Pilgrim brütete ich über seinen Thesen. Faszination Pilgrim, nicht Hitler! Was geschah seit seinem Tode im März 2022 in Auckland? Hier meine Aufarbeitung, plus ein posthumes Interview, mit Aussagen unseres Briefwechsels 2018 – 2022 sowie einer Verlinkung zu einem Portrait des Autors Steve Braunias. Ich stehe für weiterführende Auskünfte bereit, sehr spannend wäre auch eine Gesprächsführung mit Podcast. Bitte keine „Ferndiagnosen“ mehr, dafür haben wir bereits genügend Beispiele.

Mit bestem Gruss, Veit

"Brüchiges Archiv. Dich, und was du in dir trägst, dem Feuer übergeben? Als würfe man die Arbeit aller Botaniker eines Jahrhunderts ins Meer. Anselm lief im Saal auf und ab, ein gefangenes Tier. Er hatte nicht viel Zeit. Womit sollte er beginnen und wohin die Sachen in Sicherheit bringen?" Verena Stauffer (*1980) aus Wien, im Roman „Orchis“


Faszination Pilgrim: eine Spurensuche zwischen Auckland und Berlin


1. Die Gerichtsreportage zum gefährlichsten Thema der Welt

Seit Sänger Jeff Buckley 1997 im Mississippi ertrunken ist, habe ich unbewusst bald mit Schwimmen aufgehört. Nachdem mein Freund Daniel Waldner vom Rec Rec-Vertrieb 1995 bei einem Bergunfall ums Leben kam, verlor ich allmählich meine Schwindelfreiheit und meide seither die Abgründe. Wenn meine Frau wöchentlich den Fernsehkrimi schaut, flüchte ich, weil ich die Brutalität, das Geschrei und die schnellen Schnitte nicht ertrage.

Aber ich habe mich seit 2017 eingehend mit der 3400-seitigen Holocaust-Forschung von Volker Elis Pilgrim befasst. Weshalb?

Weil ich glaube, dass Pilgrim in Zukunft neben Ian Kershaw als wichtigster Hitler-Forscher anerkannt werden wird. Wäre dieselbe Studie bereits vor 1980 publiziert worden, hätten akademische Kreise die Thesen von Pilgrim längst seriös überprüfen, anschliessend bestätigen oder widerlegen können.

Ich bin überzeugt, dass Pilgrim hier mit mutigem Forschergeist vorangegangen ist und einen Indizienprozess klärt mit grossem Atem, sachlich und unaufgeregt: das inzuchtbelastete Milieu Hitlers Herkunft, die unfachgerechte Hypnose 1918 durch Edmund Forster (1878–1933), mit folgenschweren Wesensveränderungen, die aufgetischten Lügen in „Mein Kampf“, den angeblichen Suizid seiner Nichte Geli Raubal (1908–1931), den dubiosen Münchner Politiker und Steigbügelhalter Franz Gürtner (1881–1941), alle drei sterben unter ungeklärten Umständen vor 1945. Das Grundmuster eines faschistischen Systems: Mitwisser immer unauffällig verschwinden zu lassen. Aktuelles Beispiel: Putin.

2. Die Absagen: das Thema Pilgrim passt nirgends hin
Im Oktober 2021 kam ich endlich dazu, meine Schrift über Pilgrim abzuschliessen. Ich war überzeugt, der Essay sei jetzt druckreif, nachdem ich monatelang daran herumgefeilt hatte. Es bräuchte bloss noch ein engagiertes Lektorat mit passenden Zwischentiteln, und es wären keine Missverständnisse zu beantworten. Aber ich musste herausfinden: das Thema Holocaust ist ein grosses gesellschaftliches Minenfeld. Die meisten Menschen haben eine vorgefertigte Meinung dazu. Zudem war zeitgleich am Zürcher Kunsthaus die Debatte über den Umgang mit der Sammlung Bührle entbrannt. Mein Plädoyer für Pilgrim blieb auf den Redaktionen liegen. Am 30. Dezember 2021 erreichte mich nach acht Wochen Wartezeit die Absage der Republik.

Im Januar 2022 nahm ich einen neuen Anlauf mit einem Portrait, zu diesem Zweck las ich nochmals alle bisherigen Schriften von Pilgrim. Nach der überraschenden Todesmeldung habe ich das Portrait in einen Nachruf umgewandelt: dieser wurde am 11. März 2022 (nach kurzem Zögern) von der WOZ abgelehnt.

Es geht nicht darum, die aktuelle Medienlandschaft anzuklagen. Diese Leute sind im Alltag stark eingebunden und können sich nicht auf „grosse Themen“ einlassen, die möglicherweise weit zurückliegen. Die Ablehnung dokumentiert ganz einfach auch den Zeitgeist. Der Regisseur Rosa von Praunheim plante in den letzten Jahren ein Fernseh-Portrait über Pilgrim, die finanzielle Unterstützung wurde aber von den Fernseh-Stationen negativ beantwortet.

3. Eine halbe Erbschaft: der Freundeskreis rund um Pilgrim
Am späten Abend des 8. März 2022 habe ich durch eine Mailbotschaft als erster Mensch (in Europa) erfahren, dass Pilgrim zwei Tage zuvor an Krebs verstorben war, im Beisein des befreundeten Paares Campbell Smith und Sandy Schröter. In Auckland war Pilgrim die letzten drei Jahre seit 2019 in ihrem Hostel ein unauffälliger, aber sehr geschätzter Dauergast. Sie wussten, dass er als Schriftsteller tätig war, zu welchem Thema war ihnen aber nicht bekannt. Auf seinem Sterbebett hatte er mich zu meiner Überraschung als Erben eingesetzt. Dies konnte aber von der herbeigezogenen Juristin nicht mehr rechtzeitig schriftlich festgehalten werden.

Ich hätte das Erbe sowieso ausgeschlagen, denn die grosszügige Geste war von symbolischer Natur, soviel war mir sofort klar. Pilgrim wollte verhindern, dass sein Nachlass vernichtet - oder in falsche Hände geraten würde. Mit seinem verdienstvollen Verleger Wolf Osburg (Hamburg) hatte er sich im Herbst 2021 überworfen, für sein letztes Buch hat Pilgrim den Verlag Königshausen (Würzburg) ausgesucht: „Das Orgasmusmanko des Serienkillers“, welches im Spätherbst 2022 erscheinen wird. Soviel sei verraten, denn ich konnte die 370 Seiten bereits lesen: Das Buch könnte den Durchbruch für die Thesen von Pilgrim bedeuten. Mit dem „Vampire Man“ wird demnächst erstmals ein Buch in englischer Sprache erscheinen, Pilgrim hatte dies noch selbst eingefädelt.

Posthum hat sich eine illustre Gesellschaft zusammengefunden von sechs Männern und drei Frauen, ein Team das gemeinsam beraten hat, was mit dem Nachlass zu geschehen hat. Unzählige Mails wurden zwischen Auckland, Berlin, Hamburg und Zürich verschickt, bis die Lösung anfang Mai 2022 bereitstand: das Schwulenmuseum in Berlin sichtet den ganzen Nachlass, hat dafür sogar zusätztliche Räume organisiert. Ganz wichtig in diesem Team wurde die Baslerin Ulfa von Steinen, die seit 1982 in Berlin mit Alexej Mend zusammenlebt, dem Co-Autor von „Paradies der Väter“ (1980). Es sind die ältesten Freunde von Pilgrim, sie unterstützen die Rückkehr des Archivs nach Deutschland mit vereinten Kräften. Am 10. November 2022 wird der Nachlass per Schiff nach vier Monaten Reise Rotterdam erreichen.

4. Das verblüffende Portrait von Steve Braunias
Am 17. Juni 2022 erhielt ich eine Absage vom Magazin (Tages Anzeiger) für eine gewünschte Übersetzung des beiliegenden PDFs, ein intimes, posthumes Portrait des Autors Steve Braunias, welches am 21.5.22 in der NZ Herald erschien, die auflagenstärkste Tageszeitung von Neuseeland.

Ich hatte gehofft, dass das Phänomen des Autors Pilgrim eine genügend aufsehenerregende Story bietet: ab 1974 im deutschsprachigen Raum „weltberühmt“ für 15 Jahre, danach verschwinden in Neuseeland, kein Echo nach seinem Tod, komplett vergessen! Band 2 bis 4 werden überhaupt nicht mehr besprochen zwischen 2018 – 2022, der Autor stirbt „verbittert“ im Exil (so auf den ersten Blick.) Komplett vergessen? Verbittert? – Eben nicht! Autor Braunias schildert uns eine faszinierende und hoch interessante Geschichte.

Diese Optik aus Auckland des Schriftstellers Steve Braunias, der Pilgrim nicht persönlich kannte, aber nach seinem Tod mit Recherchen begann, ist sehr erhellend. Braunias fragte mich abends am 29. März 2022 im stündigen Gespräch am Telefon, nach einem Blick auf meine Website : „Hat Pilgrim als Sachbuchautor für dich eine ähnliche Bedeutung wie (im Bereich Musik) Robert Wyatt, Tim Buckley, Karen Dalton, Lotte Lenya oder Residents?“ Das trifft zu, mit dem kleinen Unterschied, dass ich mit Pilgrim zwischen 1978 – 2022 nie Gesprächsstoff hatte über das Sortiment des Rec Rec Shop, was ich manchmal bedauerte. Aber trotzdem fand ich seine Bücher zu verschiedensten Themen immer höchst lesenswert.


5. Thema Holocaust: das grosse gesellschaftliche Minenfeld
In der Trauer um seinen Tod im letzten halben Jahr wurde deutlich klar: die Obsession des Themas war eine Vendetta, seine persönliche Rache an der Nazigeneration seiner Eltern.
Der lange verdrängte sexuelle Missbrauch seines Vaters sowie das unmittelbare Umfeld seiner adligen Eltern mit der Entourage von Naziführer Hermann Göring, haben ihn die letzten dreissig Jahre seines Lebens ins Exil getrieben. Untergetaucht zuerst in Australien, später in Neuseeland, unter dem Namen Max Melbo, um dem Fluch seiner Familie zu entgehen. Trotzdem steht es uns posthum nicht zu, ihn für diese Tatsache mit der Opfer-Schublade zu stigmatisieren. Denn diese Isolation hat seine Schreibkraft und Korrespondenz nicht beeinträchtigt, ihm gelang zwischen August 2017 und Juni 2019 eine eindringliche, umfassende und fundierte Holocaust-Forschung mit vier Bänden, wozu er auch für die minutiöse Forschung zu Archiven in Berlin und München anreiste.

Momentan sind alle vier Bände im Set erschwinglich zu haben, direkt ab Verlag. Die Reihenfolge der Lektüre ist nicht zwingend chronologisch vorgegeben. Ich plädiere sogar dafür, nicht mit dem ersten Band (gelb) zu beginnen. Erstens begann Verleger Osburg 2018 ab Band 2, die Schriften im ständigen Dialog mit dem Autor selbst zu lektorieren, zweitens fuhr der Startband praktisch nur vernichtende Kritik ein, was dem Verkauf abträglich war. Ulfa von den Steinen: „Rezensenten hatten Angst, sich daran die Finger zu verbrennen“. Publizist Stephan Wackwitz erledigte die Aufgabe im Schnelldurchgang am 3. November 2017 in der FAZ mit dem saloppen Titel: „Ein sehr seltsamer Serienkiller“, sowie dem abwertenden Schlagwort: „Unappetitlich!“ - Der klassische Fall für das altbekannte Sprichwort: „Man schlägt den Sack (Pilgrim), und meint den Esel (Hitler).“
Denn die Untersuchung von Pilgrim ist nicht "unappetitlicher" als der Holocaust selbst. Wie Aids um 1985, scheint das Thema welches Pilgrim gründlich untersucht, im Jahr 2022 noch von Scham und Ausgrenzung besetzt.

In meinem Bekanntenkreis sind die Meinungen zur Hälfte geteilt. Einerseits erwecke ich mit meinen Schilderungen echte Neugierde, andererseits skeptische Abwehr.
„Man kann den Mord an 6 Millionen Juden nicht mit der sexuellen Aberration eines Einzelnen erklären.“
„Pilgrims These scheint mir sehr heikel, denn durch den Umstand der Hypnose wird die Schuldfrage verschoben und könnte damit den falschen Leuten in die Hände spielen.“
„Ich habe Mühe mit dieser Art von Täterpsychologie, auch oder gerade, wenn sie Hitler betrifft. Es ist für mich eine Form, den Schrecken zu relativieren, in eine Schachtel zu packen."
"Ich hab zuerst einmal gemerkt, dass es mich eigentlich nicht interessiert, diese sexologische Deutung. (.. ) Viel interessanter ist ja wirklich, warum es im politischen System keinerlei wirksame Mechanismen gab, ihn auszubremsen."

Genau dies hat Pilgrim getan.

Der Musiker Thomas Rehnert aus Berlin erklärte mir kürzlich, wie er seit 25 Jahren auf Flohmärkten Männer beobachtet hat, auf der Suche nach Nazi-Devotionalien der Wehrmacht, aus angeblich historischem Interesse, in Wahrheit aber fasziniert von Hitler. – Zu dieser Kategorie gehört Pilgrim ganz sicher nicht. Ich hörte tatsächlich den Einwand gegen die Studie: „Wer sich zehn Jahre lang mit dieser Materie befasst, bekommt braune Finger davon.“ Die Russen haben seit 1989 weiteres Material des zweiten Weltkriegs an die Deutschen zurückgegeben. Darüber hat sich Pilgrim umgehend ein Bild gemacht, wie niemand zuvor. Ist tief in scheinbar unwesentliche Details abgestiegen. Zudem las er praktisch jedes Buch der Sekundärliteratur zum Thema, und erarbeitete sich einen enormen Wissensvorsprung.

Hoffen wir, dass es dem Schwulen Museum Berlin um Direktor Peter Rehberg gelingt, in den nächsten Jahren Pilgrim mit Katalog und Ausstellung wieder in der Mitte unserer Gesellschaft zu integrieren. Wir müssen nicht jeden Satz von ihm unterstreichen, auch bei ihm gibt es Irrtümer. Aber eine ernsthafte Auseinandersetzung mit seiner Holocaust-Studie hat Pilgrim nach allem sehr wohl verdient. Ich habe selten dermassen präzise Wissenschaft gelesen wie im Band 2 bis 4 von Pilgrim. Das Fachwissen ist enorm, natürlich eine Provokation für die bisherige Holocaust-Forschung. Im November 2023 jährt sich der Putschversuch in München von Hitler zum 100. mal.

Siehe auch:
Reflektionen zum HolocaustReflektionen zum Holocaust
Nachruf auf Pilgrim von Veit, 25.3.22

Veit Stauffer, Herbst 2022

PS: Auf einem Gruppenbild des Werner Herzog-Films "Jeder für sich und Gott gegen alle" (Juni – August 1974) erblicken wir links den Pianisten Florian Fricke (Popol Vuh), rechts als Pfarrer Volker Elis Pilgrim. Die Sängerin Renate Knaup sowie der Drummer Daniel Fichelscher von Amon Düül, haben beide mit Popol Vuh zusammengearbeitet. Dies gibt uns einen Link zum Song „Deutsch Nepal“ von Amon Düül 2 (1972) mit der Anfangszeile: „Ein General stand an meiner Wiege, sprach, das wird ein schönes Kind …“. Kürzlich das Album „Wolf City“ wieder entdeckt, hörte ich daraus plötzlich die Sohn-Vater Perspektive. Aus dem „General“ wurde der Vater von Pilgrim, aus Deutsch Nepal wird Auckland.

Deutsch Nepal 1972 – Original
Ein General stand an meiner Wiege
Sprach: "Es ist ein schönes Kind
Es wird ein Mann wie ich ihn liebe
Gouverneur vielleicht, in Deutsch Nepal!"

Ich bin geboren
Im Land der Krieger, hrm – Krieger
Bemühe mich, hrm - bemühe mich ein Held zu sein
Doch die Siege
Lassen auf sich warten, warten, hrm, warten!
Vielleicht irrte sich der General
Hrm – General – General - General - General!