Gibt es ein Grab von Karen Dalton?
News vom 15. Mai 2019
Liebe Musik- und Filminteressierte
A BRIGHT LIGHT - Un Film De Emmanuelle Antille
Möglicherweise hätte Bob Dylan im Dezember 2016 KAREN DALTON geschickt, wäre sie nicht bereits 1993 im Alter von 55 Jahren an Aids gestorben, statt Patti Smith seinen Nobelpreis abzuholen.
Karen Dalton, Tim Buckley, Nico und Nick Drake gehören zu den Figuren, die mit ihrem Gesang beim geneigten Publikum den "Beschützer-Instinkt" auslösen: man möchte sie nachträglich "adoptieren" oder zumindest "sicher durch die Unbill des Lebens begleiten". Ein Paradox, unter Umständen sehr schwer zu lösen. Nachdem ich ihre Musik bereits zehn Jahre kannte, brach es mir fast das Herz, beim Anblick ihrer zwei fehlenden unteren Schneidezähne. Im Jahre 2006 erstmals auf DVD gesichtet: die damals 33-jährige Sängerin auf 12 wertvollen Minuten, die wunderschöne 12 String-Gitarre in der Hand. Wie eine Flaschenpost aus längst vergangener Zeit, aufgezeichnet von einem TV-Team aus Frankreich, 1969 in New York und 1970 in Summerville/Colorado, inklusive Autofahrten in schwarz/weiss durch zentnerschwere Autofriedhöfe.
Wohl kein Zufall, dass erneut aus dem französischen Sprachraum (diesmal Montreux beim Genfersee), eine aussergewöhnliche Hommage entstand an die unvergessliche Blues-Sängerin Karen Dalton (1937-93), die oftmals im selben Atemzug wie Billie Holiday, Nina Simone oder Janis Joplin genannt wird.
Frank Heer (Kulturredaktor Annabelle) und ich waren uns nach der Zürcher Premiere im Riff Raff einig: grossartige weibliche Intuition. Ein Telefon-Interview mit der Regiesseurin EMMANUELLE ANTILLE (1972*) hat einige Rätsel geklärt. Die Regiesseurin wollte nicht als Voyeurin an die geheimnisvolle Sängerin herantreten, sondern die Spurensuche als Roadmovie an Ort entstehen lassen. Der Film war ursprünglichlich mit einfachsten Mitteln finanziell selber produziert, erst in der Postproduktion kam die öffentliche Hand dazu. Hundert Stunden Filmmaterial, dazu fünfjährige Recherchen, das Suchen der Rechte für die Originalmusik.
In einem schwarzen Chevrolet fuhr Emmanuelle im Spätsommer/Herbst 2016 mit Kamerafrau CARMEN JACQUIER und Tonmeisterin MALIKA PELLICIOLI 8000 km ab Denver über Oklahoma, Enid und Texas, Dallas bis Louisiana und NYC … Insgesamt 20 Zeitzeugen (14 Männer und 6 Frauen) werden sie auf ihrer Reise antreffen, teilweise zuvor abgemacht, oder dann zusätzlich weiterempfohlen. Es ist eine unerschrockene Herangehensweise, Antille kann mit Bildmaterial umgehen, und bald meldet sich auch ihre sympathische Stimme mit französischem Akzent aus dem Off. Während dem 95-minütigen Film gibt es immer wieder atmosphärische Sequenzen, die an David Lynch erinnern. Manchmal ziehen sich die drei Frauen Tiermasken über den Kopf oder halten ein Foto von Karen vor ihr Gesicht, ohne den Filmfluss gross zu stören. In der Tradition "Cinema Directe": wenn während der Autofahrt ein Gespräch aufgezeichnet wird, wird die Szene nicht wiederholt, bloss weil sich leichte Unschärfe abzeichnet. Deshalb heisst es im Untertitel auch "Karen and the Process": alles im Fluss, viele Bätter im Wind und Lichtspiele mit der Sonne.
Bald schon taucht die Frage auf: gibt es ein Grab von Karen? Werden ihre zwei Kinder vor die Kamera treten? Wir erfahren es erst am Schluss.. Wir lernen die ersten zwei Freunde kennen. Dan Hankin war mit ihr auf Europa-Tour 1971 und Chuck Ogsbury hat damals mit einem Foto von Karen für sein Banjo-Fachgeschäft geworben. Befreiendes Gelächter im Kinosaal, als beide Freunde in der Gegend wie Archäologen in einem Waldstück ein nicht mehr existierendes Haus von Karen im Gras ausfindig machen.
Wir bekommen eine Vorstellung, in welchen Häusern und Landschaften Karen gewohnt hat, auf welche Art sie sozialisiert war, dass sie gerne alleine war, bis hin zum Sterben. Unvergesslich die Szene gegen Schluss des Filmes, als uns Peter Walker die seither leer gebliebene letzte Wohnung zeigt, wo er die schwer kranke Karen am Vorabend ihres Todes im März 1993 zum letzten mal umarmt hatte.
Es gibt kaum Dokumente von der gemeinsamen Tour im Frühling 1971 durch Europa. Welch bizarre Manager-Entscheidung, Karen Dalton als "Anheizer" der Woodstock-Sensation SANTANA auf ihrem Zenit zu missbrauchen. An einer solchen Aufgabe wären damals auch Nick Drake oder Tim Buckley gescheitert. Die Tour brachte für Karen Dalton keinen Gewinn, es bestätigte bloss, dass sie nicht für grosse Bühnen geschaffen war. Meine kürzliche Recherche ergab:
In der Schweiz war das Gastspiel am Samstag, 1. Mai 1971 in Montreux, Karen war zwar am Nachmittag beim Soundcheck, aber bei Konzertbeginn unauffindbar. Ist vermutlich im Publikum niemandem gross aufgefallen. Die Tour führte vom 15. April bis 9. Mai 1971 durch Kopenhagen, Stockholm, Rotterdam, Frankfurt, München, Bremen, Hamburg, Paris, Mailand, Rom, Montreux und London. Und zuletzt noch eine sensationelle Entdeckung: in der Sendung BEAT CLUB in Bremen wurden am Mittwoch, 21. April zwei Stücke mit der Karen Dalton Band aufgezeichnet: "Take Me" und "One Night Of Love". Diese Filmaufnahmen währen bestimmt erfreulich anzuschauen, gelten aber als verschollen.
Peter Walker (*1938) hat sich unermüdlich für das Werk des Rohdiamanten namens KAREN DALTON eingesetzt. Das erste Album "It's So Hard To Tell Who's Going To Love The Best" (1969) wurde bereits 1997 wiederveröffentlicht, das zweite Album "In My Own Time" dann 2006. Seither wurden drei Alben mit unveröffentlichtem Archivmaterial zugänglich gemacht: "Cotton Eyed Joe" (Live, 1962), "Green Rocky Road" (Home Recordings, around 1963) sowie zuletzt erschienen 2012: "1966" mit 14 Coverversionen von Billie Holiday, Fred Neil, Ma Rainey und Tim Hardin.
Ein langjähriger Freund sah die Vorpremiere und hat mir bereits vor vier Monaten abgeraten: er sah offenbar einen ganz anderen Film. Vielleicht ist es von Vorteil, bei der Visionierung gar nichts - oder dann wie in meinem Fall: sehr viel über KAREN DALTON zu wissen. Am Ende des Tages werden auch die Skeptiker attestieren: Emmanuelle Antille hat hier 5 vor 12 der Karen Dalton-Forschung die Kohlen aus dem Feuer geholt. Jedenfalls kommt hier eine deutliche Empfehlung, der Film ist momentan in der deutschen Schweiz auf Tour, begleitet von gleich drei Sängerinnen: Laure Betris, Dayla Mischler und Melissa Kassab
Veit F.Stauffer, 14. Mai 2019
ps. EMMANUELLE ANTILLE hat 2012 bereits den berührenden Spielfilm "Avanti" abgedreht, in der Hauptrolle mit HANNA SCHYGULLA. Die dabei verwendete Filmmusik lässt bereits auf ihren hervorragenden Indie-Geschmack schliessen: Honey For Petzi, Pixies, Jana Hunter, Yo La Tengo, Breeders, My Bloody Valentine etc.