Streiche ach, behalte Serge

Streiche ach, behalte Serge

News vom 24. November 2018

Streiche ach, behalte Serge = Aktion Stauffacher
(eine nie ausgeführte Performance-Idee, im Winter 1989-90: beim Stauffacher das Wort Ach streichen, dahinter «Serge» schreiben)

Susanne Kaufmann, die verdienstvolle Kuratorin der Duchamp-Ausstellung in der Staatsgalerie Stuttgart, erzählte mir im Sommer 2018 eine verblüffende Anekdote. Wann immer sie mit Menschen der aktuellen internationalen Duchamp-Szene über meinen Vater Serge Stauffer sprach, von seinen hundert Fragen an Duchamp im Sommer 1960, kam die erstaunte Frage zurück: «Und hat denn Duchamp wirklich geantwortet?»

Auf Wunsch meiner Eltern absolvierte ich ab Mai 1975 für drei Jahre die experimentelle Kunstschule Farbe & Form, im Volksmund F & F genannt. Ich hatte keine Lehrstelle mehr gefunden in meinem Wunschberuf Schallplatten-Verkäufer. Meine Mutter vermittelte in ihrem anregenden Fach «Teamwork» auch Grundkurse in Feminismus. Mein Vater sprach in meiner Erinnerung wenig von Duchamp, vermittelte der Klasse von rund 35 Schüler/innen aber ein solides Wissen über zahlreiche Avantgarde-Strömungen der aktuellen Kunstszene. Ich liess mir Josepf Beuys’ berühmten Satz erklären: «Das Schweigen von Marcel Duchamp wird überbewertet.»

Auf dem Mofa während der Fahrt nach Hause schüttelte ich den Kopf über solche Hahnenkämpfe zwischen zwei angesehenen Figuren der Kunstgeschichte und änderte den Satz kurzerhand um in «Das Denken der Männer wird überbewertet». Im Sommer 1976 malte ich diesen Satz in dicken Lettern auf einen Karton, stellte mich damit an einem Nachmittag beim Warenhaus Jelmoli an die Bahnhofstrasse, etwas verunsichert, aber auch genüsslich die Reaktionen abwartend. Der paradoxe Satz enthielt auch radikale Selbstkritik an meinem zukünftigen Leben – ich war damals erst siebzehneinhalb Jahre alt. Mein Freund und Mitschüler Thomas Fehlmann, heute ein bekannter Techno-Musiker in Berlin, fotografierte die ganze Szenerie. Ein Jahr später verteilten wir den Satz auf kleinen Schwarz/Weiss-Klebern in der ganzen Stadt, dort sah ihn der Karikaturist Peter Gut, und Jahre später verarbeitete er den Sinnspruch in einem Dreibildercomic.

Der wichtigste Duchamp-Förderer in Zürich der 70er-Jahre war sein Kleinverleger im Regenbogen, Theo Ruff. Im Frühling 1973 erschien wie aus dem Armel geschüttelt, mit attraktivem grafischen Auftritt, das Taschenbuch mit den 180 Zitaten von Duchamp sowie einem langen Nachwort von Serge. Im Oktober 1973 fand im Theater Stok die Buch-Vernissage statt. Mein Vater hatte an diesem Abend Kinder-Aufsicht und schleppte mich kurzentschlossen mit. So kam ich schon recht früh in Kontakt mit den charismatischen Diavorträgen meines Vaters und hörte im Dunkeln, wie er sich zwischendurch eine Gauloise-Gelb-Zigarette zurecht klopfte. Mit grosser Unterstützung von Theo Ruff und Peter Zimmermann konnte dann zwischen 1979 und 1982 das ambitionierte Hauptwerk «Die Schriften» ausgeführt werden, das 2018 zur grossen Freude der Familie Stauffer und Michael Hiltbrunner, rechtzeitig zur Ausstellung in Stuttgart, in dritter und erweiterter Auflage erschienen ist – erstmals zu bezahlbarem Preis.

Ich habe zu keiner Zeit versucht, mir das Wissen meines Vaters über Duchamp anzueignen. Meine Domäne war ab 1974 die Rockmusik. Serge unterstützte diese Passion, gab mir wertvolle Tipps, handkehrum brachte ich ihm die wachsende Zahl von John-Cage-Platten mit nach Hause. Gemeinsam begegneten wir Anfang 1985 dem britischen Komponisten Gavin Bryars. 1982 erklärte mir Peter Blegvad von Slapp Happy in einem Interview den Duchamp-Einfluss auf sein Album «Kew. Rhone.». Mein Foto von 1977 mit dieser Platte ist seit 2012 auf dem Rec-Rec-Plastiksack abgebildet. Michael Hiltbrunner hat seit 2011 sein Forschungsgebiet nebst Doris und Serge Stauffer auch auf die gesamte Geschichte der Farbe & Form-Schule ausgeweitet. Eindrücklich zeigt dies auch seine Publikation «Wir muten ihnen alles zu» im Verlag Scheidegger & Spiess. Ein sehr schönes und vielseitiges Lesebuch über den Konzept-Künstler und Sozial-Utopisten Peter Trachsel (1949-2013), zusammengetragen in Aufsätzen.

Seine einzige Reise auf einen anderen Kontinent unternahm Serge im Oktober 1975 nach Island und Amerika, mit Verleger Theo Ruff sowie seinem Schwiegersohn Danny Jablonsky. Natürlich besuchten sie auch die ausgestellten Unikate von Marcel Duchamp in Philadelphia. Währenddessen stellte uns der Lehrer Hansjörg Mattmüller an der F & F eine Aufgabe zum Thema «Fälschung». Am Sonntagnachmittag, im Gästezimmer zuhause in Seebach, half mir meine Mutter Doris mit Maske und Kamera, folgende drei Vorlagen nachzustellen: den entführten CDU-Politiker Peter Lorenz, den Sänger Iggy Pop auf dem Albumcover von «Raw Power» (als Mikrofonständer wählte ich das Rohr unseres Staubsaugers), sowie eine rätselhaft mondäne Frau auf dem Umschlag von «Rotter’s Club» der Prog-Rock-Band Hatfield & The North. Doris setzte den Seitenscheitel perfekt in Szene, schminkte mich ausnehmend hübsch, wobei ich in punkto Schönheit selbstverständlich nicht mit dem Original konkurrieren konnte. Erst später sah ich in dieser Performance eine Hommage an meinen Vater respektive an die weibliche «Rrose Sélavy»-Figur seines Idols Marcel Duchamp. Auf der Fotovorlage war übrigens die amerikanische Schauspielerin Joan Croawford im Jahre 1933 abgebildet, die auf dem Bett liegend einen Brief beantwortete.

Der 22. November 2018 ist ein besonderer Tag. Das fünfte Urenkelkind meiner Eltern feiert heute seinen 2. Geburtstag – ein Gruss an Laura. Und die Proto-Punkband MC 5, 1968 in Detroit gegründet und mir im Frühling 1975 von Serge empfohlen, spielt ausgerechnet heute Abend in Zürich, auf grosser Jubiläumstour unter dem Namen MC 50. Zudem: Mein Musikfachgeschäft Rec Rec feiert 2019 den 40. Geburtstag, unter anderem mit einer grossen John-Cage-Abteilung. Und Serge Stauffer wäre 90 Jahre alt.

Veit F. Stauffer, im November 2018