Liliput
Liliput ( 2CD)
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Das Gesamtwerk von Kleenex / Liliput von 1978-83
Mein Nachruf vom Sommer 2016 für KLEENEX / LILIPUT-Gitarristin MARLENE MARDER (1954-2016) blieb aufgrund Schreibstau drei Jahre lang in der Schublade. Heute 15. Mai 2019 gelang es mir, den Text ganz leicht zu überarbeiten.
Wir hören uns nochmals durch das Gesamtwerk von Kleenex/Liliput, da spielt einerseits die Erinnerung an die Jahre 1978-83 mit, andererseits wirken die Songs immer noch so erfrischend, phantasievoll und erdverbunden, als wären sie erst letzte Woche entstanden. Konstant mit dabei: Bassistin Klaudia Schifferle und Gitarristin Marlene Marder. Beide bilden das Herz der Gruppe, gefolgt von Drummerin Lislot Hafner. Im Booklet der 2CD-Anthologie LILIPUT (1993 Off Course, später 2001 Kill Rock Stars) lässt sich diese Entwicklung im Booklet anschaulich mitverfolgen. Die erste Sängerin 1978-79 Regula Sing wurde 1980-81 durch Chrigle Freund abgelöst, danach folgte 1981-83 Astrid Spirig. Die erste Drummerin Lislot Hafner war 1978-80 mit dabei, dann folgte eine bemerkenswerte Phase im Studio ohne feste Drummerin: die Single "Eisiger Wind / When the cat's away" (Frühling 1981) und das erste Liliput-Album (Frühling 1982): die rhythmischen Parts wurden im Kollektiv aufgeteilt. Dann folgte die Schlussphase mit Drummer Beat Schlatter und Saxer Christoph Herzog. Drei Stücke im Studio aus dieser Phase wurden zurecht erst 1993 erstmals auf der Anthologie veröffentlicht: sie wirken im Vergleich zum anderen Material seltsam blass.
Die ersten zwei Singles von KLEENEX mit sechs Songs waren alle grosse Klasse, das war ein starker Einstand vom Frühling 1978 bis Frühling 1979. Dann tauchten sie fast 15 Monate ab, für Umstrukturierungen in der Band und Erarbeitung neuer Songs, und waren dann im Juli 80 zurück mit zwei fulminanten Singles als LILIPUT: "Split / Die Matrosen" und "Hitch-Hike / DC-10". Letztere Tracks sind effektiv nicht als Single, sondern auf dem berühmten "Swiss Wave"-Sampler vom Spätsommer 80 erschienen, auf dem auch der "Eisbär" von GRAUZONE erstmals auftauchte. Sängerin Chrigle Freund und Saxofonistin Angie Barrack machten ihren Einstand. Liliput waren zurück, auch auf der Bühne, rechtzeitig zur Ausstellung "Saus und Braus" im Strauhof, kuratiert von Bice Curiger.
Das Album "Liliput" wurde im Februar 1982 in reduzierter Triobesetzung in der nähe von Niederweningen aufgenommen. Schauen wir uns die Besetzung nochmals genau an: Astrid, Klaudia & Marlene: alle drei spielen Bass, sowie Perkussion und Drums (zumeist Klaudia), nebst den angestammten Instrumenten Violine & Geige (Astrid), Bass (Klaudia), und elektrische Gitarre (Marlene). Im Herbst 1981 hatten die Liliput im Übungsraum der Roten Fabrik, noch einige Drummer/innen ausgetestet, beschlossen dann aber das Debut als Trio einzuspielen, das Resultat war überaus charmant, ruppig und verspielt. Wie bereits Anfang 1981 auf der Single "Eisiger Wind" lässt Marlene souverän ihre Bewunderung für den markanten Gitarrenstil von Siouxsie & The Banshees aufblitzen (siehe "In A Mess" und "Like Or Lump It"). Eine sehr schöne Basslinie treibt das schwebende "Feel Like Snakes Twisting Though The Fog" vorwärts. "Tong Tong" ist reduziert auf Drums und monotonem Gesang, zieht uns aber in einen Sog, den damals auch Malaria aus Berlin heraufbeschworen. Vier weitere Stücke verzaubern mit einem experimentell-asiatischen Touch: A3. "Birdy", A5 "Tschik-Ko", B2 "Umamm", B5 "Ichor". Das rhythmisch komplexe "Outburst" ist im Arrangement souverän umgesetzt, steht im Kontrast zum melancholischen "Might Is Right", welches dann auf dem zweitel Album "Some Songs" (Oktober 1983) noch zwei Geschwister bekommt: "A Silver Key Can Open An Iron Lock Somewhere" und "Etoile".
Am 9. Juni 2016 auf dem Friedhof Uetliberg trat in einer sehr regnerischen Periode um 14h plötzlich ganz langsam die Sonne durch die grauen Wolken. Die Saxofonistin Susanne Müller (auf Liliput "Some Songs" von 1983 zu hören) blies sorgfältige Linien in die Luft, während das Grab für die Bestattung der Urne bereitgemacht wurde. Rund 120 Leute hatten sich versammelt: allen voran die Sängerinnen von TNT (Sara Schär), Mother's Ruin (Silvia Holenstein), Female Trouble (Sibylle Aeberli), Liliput (Astrid Spirig), UnknownmiX (Magda Vogel) und Rosebud (Nadja Zela) - beide Musikerinnen des Trios Dangermice (Lydia Bischofberger & Suzanne Zahnd), und natürlich Bassistin und Drummerin von Kleenex (Klaudia Schifferle & Lislot Hafner). Diskret mischten sich auch die Stadtpräsidentin sowie der Polizei-Chef unter den Trauerkreis. 40 Minuten dauerte das wunderschöne Ritual, bis alle bereitgelegten Rosen von einzeln vortretenden Menschen auf die Urne gelegt wurden. Die anschliessenden Reden und Nachrufe in der Kapelle, liebevoll moderiert von Rosanna Zarba, die mit Marlene einige Jahre beim WWF zusammengearbeitet hatte, waren nachdenklich und aufschlussreich, aber auch erheiternd. Besonders die Geschichten von der jüngeren Schwester Karin. Wir erfuhren, dass die Mutter von Marlene niederländisch-indonesischer Herkunft war. Um 1965 herum waren die Eltern in Scheidung, alle drei Schwestern wurden nach Braunwald / Glarus zu einer Tante in die Ferien geschickt. Marlene riss zweimal aus. Das erste mal fing der Vater sie sogleich am Bahnhof Zürich ab. Beim zweiten mal stieg Marlene einfach eine Station vorher aus ...
Veit F. Stauffer, im Sommer 2016
(zum dritten Todestag für Marlene überarbeitet, 15. Mai 2019)